Die Faszination des Denkens
Alois Schöpf, der Herausgeber der Essayreihe im Limbus Verlag, über seine Gründe, sich für unabhängiges und freies Denken zu engagieren.
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“
Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, 1784
Zumindest die Anfangssätze des Aufsatzes Was ist Aufklärung? sind allgemein bekannt. Schon weniger bekannt ist die Diagnose, die Immanuel Kant hinsichtlich der Gründe stellt, weshalb sich der unabhängige Vernunftgebrauch nachhaltig mäßiger Beliebtheit erfreut: Nach Ansicht des Philosophen sind „Faulheit und Feigheit“ dafür verantwortlich, dass die meisten Menschen nicht selbst denken, sondern lieber denken lassen.
Aus heutiger Sicht müsste diesen beiden Untugenden eine weitere hinzugefügt werden, und zwar die Notwendigkeit, zur Absicherung des guten Lebens sich selbst zu vermarkten. Ob Künstler, Politiker, Journalist, Werbeprofi oder honoriger Universitätsprofessor: das Denken, zumal das öffentliche, hat einer Karriere zu dienen, die ausreichend Wohlstand garantiert. Die Vernunft wird nach Dienstschluss nicht in die Unabhängigkeit des Privatlebens entlassen, sondern ist Instrument zur Absicherung gehobener Positionen und der damit verbundenen Budgetansätze.
Solch höhere Prostitution führt zu einem institutionellen Denken, das in aufwändigen Broschüren die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns philosophisch zu untermauern und genau jene Fragen zu vermeiden hat, welche zur edelsten Eigenschaft des Vernunftgebrauchs gehören: sich durch korrekt voranschreitende Argumente in Gefahr zu begeben, gegen das eigene Rechtfertigen und Handeln zu opponieren und damit gegen das Gebot der Selbstvermarktung verstoßen zu müssen.
Gerade der Verzicht auf diese Gefahr hinterlässt im institutionellen Denken einen schalen Geschmack, von der oftmals philosophische Texte gekennzeichnet sind, die sprachlich hochgerüstet Mäuse gebären. Wer auf der Suche nach Texten ist, deren rücksichtsloses Bekenntnis zum Risiko des Denkens die Fenster zur Freiheit und zur Faszination der Antworten eröffnet, wie man richtig lebt, wird daher, wenn überhaupt, in den Regalen der Buchhandlungen bestenfalls einige Klassiker des Essays und kaum Zeitgenossen finden: Sie sind zu oft mit ihrem eigenen Fortkommen beschäftigt.
Dabei bietet Kant in seinem Aufsatz auch für die Spannung zwischen beruflichen Verpflichtungen und davon unabhängigem Denken eine verblüffend pragmatische Lösung an: Er unterscheidet zwischen dem Status des beruflichen Handelns und der Freiheit des Denkens. Danach hat jedermann zu tun, wozu er durch seine Arbeit verpflichtet ist. Dies schließt jedoch nicht aus, dass er sich außerhalb seines Berufes in vollkommener Freiheit am öffentlichen Disput der Gelehrten beteiligt, jener also, die sich in ihrer Sache – in ihren Berufen – auskennen.
Zu dieser Freiheit und zu diesem öffentlichen Disput möchte die Essay-Reihe des Limbus Verlags wesentliche Beiträge leisten.
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Alois Schöpf ist seit Jahren Autor im Limbus Verlag, bisher erschienen sind seine programmatischen Essays Vom Sinn des Mittelmaßes und Platzkonzert sowie der Roman Heimatzauber und zwei Libretti. Er betreut als Herausgeber die Reihe Limbus Essay, die er mit Glücklich durch Gehen auch eröffnet hat. Als weitere Bände sind die Essays Wenn Dichter nehmen und Kultiviert sterben in ebendieser Reihe erschienen.