Gabriele Weingartner im Gespräch über ihren Roman Léon Saint Clairs Abschied von der Unendlichkeit
Im Herbst 2019 erschien Léon Saint Clairs zeitlose Unruhe – ein grandioser, wilder, zügelloser Roman über einen Mann, der nicht altert und stirbt. Ich habe mich während des Lektorats sehr in Léon verliebt, der Roman ist eines meiner Lieblingsbücher geworden; ich war aber trotzdem überrascht, als du angekündigt hast, an einem zweiten Band zu schreiben. Was hat dich angetrieben, was war der Grund für einen zweiten Roman um Léon Saint Clair?
So genau weiß ich es selbst nicht, ehrlich gesagt. Vielleicht hatte ich das Gefühl, Léon schleppe, als er am Ende des ersten Bandes in Chur landet, noch sehr viel Unerledigtes mit sich herum. Ich als Autorin durfte mich davor nicht drücken: Es waren auch Schreibhypotheken, die sich da auftürmten, nicht nur vor ihm, auch vor mir! Lose Fäden, deren Verknüpfung ich zumindest versuchen sollte, nicht gelöste Rätsel, auf deren Erklärung meine Leserschaft vielleicht wartete.
Und dann hast du dich hineingestürzt! Man merkt dem Roman an, wie gern du daran geschrieben hast; die Lust am Erzählen und an den einzelnen Szenen sprüht richtig heraus. Das täuscht nicht, oder? Wie war die Arbeit am Roman für dich?
Manchmal habe ich die Lust am Erzählen genau so gespürt, wie sie bei dir angekommen ist. Gelegentlich war das Erzählen aber auch eine Bürde! Zeigte sich doch, je weiter ich kam, dass dieser verflixte zweite Band in der Tat nicht im luftleeren Raum beginnen konnte, dass Léon Epochen auf dem Buckel hatte, deren Auswirkungen sich nicht in Nebensätzen erledigen ließen …
Genau, mit diesen Auswirkungen muss sich Léon ordentlich herumschlagen. Es stellen sich ihm etwa schneidende moralische Fragen: Trage ich Verantwortung auch in Situationen, in denen ich ausgeliefert bin? Habe ich öfter eine Wahl, als ich vielleicht aus Feigheit und Trägheit gerne hätte?
Man hat immer eine Wahl, sagen die meisten großen Philosophen. Die aber waren in der Realität wohl höchstens in der moralischen Zwickmühle und selten im Krieg. Léon stellt immerhin fest, dass er sich vor Verantwortung gerne gedrückt hat. Was daraus folgt? Ich weiß es nicht.
Léon war buchstäblich ein Taugenichts, einer, der wenig entscheidet und vieles mit sich machen lässt. Inzwischen hat er aber eine Art Unschuld verloren – das meine ich nicht im sexuellen Sinn. Was ist passiert? Warum macht er nach fast zweihundertfünfzig Jahren einen Entwicklungs-, einen Reifeschritt?
Es war keine Initialzündung, die sich da ereignete, eher ein längerer Prozess, der mit den Menschen zusammenhängt, denen Léon begegnet. Mit meiner zweiten Hauptfigur Tomasz Wrobel, dem Besitzer des Maßateliers Adam, einem Polen, der in seinem Leben Ähnliches ertragen musste, was Léon im Verlauf von Jahrhunderten erlebte. Mit dem hellsichtigen Johannes, einem jungen Kunsthistoriker, der Léon mit der Endlichkeit des Lebens konfrontiert, wie sie sich in der mittelalterlichen Kunst des Totentanzes repräsentiert. Mit der unberechenbaren, verstörenden Fritzi, die Léon in ihrer Person die Last seiner Vergangenheit aufzeigt. Mit Herrn Schwanenherz, dem bewundernswerten Hundertjährigen, und seiner schlitz-
ohrigen Weisheit. Damit Léon den Charme und die Würde all dieser Individuen erkennen kann, musste ich –
als seine Erfinderin – ihn von einem Bann befreien, vielleicht sogar von etwas erlösen, das ihm den klaren Blick verwehrte. Ein bisschen wie Parsifal von seiner Tumbheit mit der berühmten Amfortas-Frage, der Mitleidsfrage …
Mit neuem klaren Blick erlebt Léon – und mit ihm die Lesenden – nicht nur Schönes, sondern wir werden auch sehr explizit auf Gewalt gestoßen – auf politische Gewalt, auf körperliche, auch sexuelle Gewalt, auf Gewalt, die sich aus Machtgefälle und Hierarchie ergibt. Hat dich das Thema besonders beschäftigt, oder liegt es womöglich – das kommt mir eben in den Sinn – im Auge der und des Lesenden, wie schwer das wiegt?
Ganz gewiss. Für Gewalt und Missbrauch gibt es keinen objektiven Maßstab. Individuell erfahrene Gewalt jeglicher Art lässt sich aber auch nicht relativieren. Zu keiner Zeit, wann immer sie geschieht. Es lag deshalb nahe, in Léons langem Leben die Varianz von Grausamkeit in den Fokus zu nehmen.
In diesem seinem langen Leben bewegt sich Léon in teils recherchierten, teils fabulierten historischen Situationen. Inwiefern passt Andrew Marbot, ein Ästhetiker und Kunstpsychologe aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, der für Léon von immenser Bedeutung ist, da so perfekt hinein?
Das ist eine schwierige Frage. Sie ausführlich zu beantworten, könnte sich für meine Leser und Leserinnen und für mich als Spoiler erweisen, als Unterwanderung des Plots sozusagen, den ich mit dem Auftreten von Wolfgang Hildesheimer, eines von mir sehr geschätzten Schriftstellers, als leibhaftige Romanfigur eingefädelt habe. Nur so viel: Andrew Marbot ist Léons zeitweiliger Zeitgenosse, aber auch eine Kunstfigur mit höchst eigenwilliger Entstehungsgeschichte – ganz wie Léon. Am Ende des Romans wird er sich mit dieser Tatsache auseinandersetzen müssen …
Trotz all der existenziellen Themen blitzen überall Humor und Witz heraus. Du beschenkst uns mit wunderbar grotesken Szenen, mit witzigen Dialogen, mit Geschehnissen, bei denen man ohne jede Bitterkeit einfach lachen muss – ein Kunststück! Ich nehme an, das war keine rein taktische Entscheidung, damit das Buch leichter verdaulich wird …?
Nein, überhaupt nicht. Die grotesken Szenen geschahen sozusagen ohne mein Zutun, auch für mich waren sie eine Überraschung. Abgesehen davon: Jede meiner Figuren besitzt ihr eigenes tragikomisches Potenzial. Selbst Wrobel, dieser überaus seriöse Mensch, wirkt in seinem pädagogischen Furor seinen Angestellten gegenüber ein bisschen lächerlich.
Für Leon – und die Lesenden – sind jedenfalls seine Begegnungen mit Kunst eine große Freude; Kunst, die zum Reflektieren einlädt, Verwunderung und Verwirrung provoziert, mit Schönheit beschenkt und manchmal schlicht Vergnügen bereitet. Welche Funktion hat Kunst – von Musik über Malerei und Plastik bis zum Schreiben – im Roman und für dich?
Ich habe mein ganzes Leben lang, praktisch wo ich ging und stand, gelesen und geschrieben. Zeitungen, Romane, Schrott, Weltliteratur. Mein Brotberuf ist zudem Lesen und Kritisieren. Ohne die permanente Befruchtung durch meine vielfältigen Lektüren hätte ich keinen einzigen Roman zustande gebracht … immerhin sind es ja neun oder zehn inzwischen. Dass mein Léon – mehr intuitiv als sachkundig – Musik und Kunst liebt, gerne Bilder betrachtet, ins Museum geht und ins Konzert, war mir ein Anliegen. Mit zunehmendem Alter wird er auch für den Zauber von Literatur empfänglicher. Das erfreut mein Herz besonders.
Das Gespräch mit Gabriele Weingartner führte Merle Rüdisser.